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© Monika Skolimowska/dpa

1600 Geflüchtete ohne Schulplatz in Berlin: Forscher fordern „Nothilfeprogramm“ ohne Deutschunterricht

Besser kein Deutsch als gar keine Schule: Fachleute von Bertelsmann Stiftung und „Schöneberg hilft“ präsentieren ihr Übergangskonzept für ukrainische Schüler.

In Berlin warten aktuell rund 1600 schulpflichtige Geflüchtete auf einen Schulplatz. Allerdings sind die Wartenden höchst ungleichmäßig auf die Bezirke verteilt. Das größte Defizit bestand zum Stichtag 1. November in Lichtenberg, wo allein rund 354 Kinder und Jugendliche unversorgt sind. Dies teilte die Senatsverwaltung für Bildung auf Anfrage der CDU-Fraktionssprecherin für Bildung, Katharina Günther-Wünsch, mit.

Zu den anderen Bezirken mit besonders langen Wartelisten gehören demnach Marzahn-Hellersdorf (287), Pankow (264) und Charlottenburg-Wilmersdorf (174). Die wenigsten Probleme, die Geflüchteten unterzubringen, gibt es demnach in Reinickendorf (25), Spandau (38), Steglitz-Zehlendorf (60), Mitte (65) und Tempelhof-Schöneberg (66).

Die Wartelisten sind eine Folge der hohen Zuwanderungszahlen. Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD) sprach im Bildungsausschuss jüngst von inzwischen etwa 7000 Geflüchteten, die beschult werden müssten. Pro Woche kämen 200 hinzu.

7000
Schulpflichtige sind unter den seit Februar nach Berlin Geflüchteten.

Die 7000 Geflüchteten verteilen sich auf drei Gruppen: 2500 sind in reguläre Schulklassen integriert, die übrigen besuchen Willkommensklassen oder gehören zu den 1600 Nicht-Beschulten.

Auf die Frage von Günther-Wünsch nach den Anstrengungen der Verwaltung, die Wartelisten zu verkleinern, verwies Jugendstaatssekretär Aziz Bozkurt (SPD) auf die „kontinuierliche Ausschreibung“ zur Lehrkräftegewinnung und die „Task Force Ukraine“ der Bildungsverwaltung. Darüber hinaus unterstütze die landeseigene Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM) die Bezirke bei der Gewinnung weiterer Räume: Die Senatsverwaltung für Finanzen habe das Verfahren zur bezirklichen Anmietung von Räumen „erleichtert und entbürokratisiert“.

Das Modell der Deutsch-Ukrainischen Begegnungsschule muss ausgebaut werden.

Katharina Günther-Wünsch, CDU-Bildungsexpertin

Günther-Wünsch hält das aber für nicht ausreichend, sondern erwartet weitere Bemühungen. Dazu könne gehören, dass die Mindestanforderungen für Unterrichtsräume gesenkt werden, aber auch, dass das Modell der Deutsch-Ukrainischen Begegnungsschulen (DUB) ausgebaut werden könnte.

Seit Oktober wird an der Kreuzberger Aziz-Nesin-Schule das Modell der Deutsch-Ukrainischen Begegnungsschule erprobt. Gleichzeitig starteten vier Klassen an der Helene-Lange-Schule in Steglitz-Zehlendorf.
Seit Oktober wird an der Kreuzberger Aziz-Nesin-Schule das Modell der Deutsch-Ukrainischen Begegnungsschule erprobt. Gleichzeitig starteten vier Klassen an der Helene-Lange-Schule in Steglitz-Zehlendorf.

© Foto: Joerg Carstensen/dpa

Dass die bisherigen Instrumente nicht reichen, um die gesetzliche Schulpflicht umzusetzen, meint auch Berlins früherer Grüne-Bildungsstaatssekretär Hans-Jürgen Kuhn, der sich seit vielen Jahren im Verein „Schöneberg hilft“ engagiert. Zusammen mit den Bildungsforschern der Bertelsmann Stiftung, Martin Pfafferott und Dirk Zorn, hat Kuhn deshalb alternative Bildungsangebote als „Nothilfe“ für ukrainische Kinder und Jugendliche gefordert. Diese müssten jetzt geplant werden.

Das Land soll den Rahmen für die Notlösung schaffen

In einem gemeinsamen Papier, das dem Tagesspiegel vorliegt, haben die drei Experten dargelegt, worin die Antworten bestehen könnten. Im Zentrum der Überlegungen: Die Bildungsverwaltung solle sich temporär von dem Ziel verabschieden, dass alle Geflüchteten sofort auf Deutsch beschult werden.

Solange es nicht genügend deutschsprachige Lehrkräfte gebe, müsse Berlin einen „einen strukturierten Rahmen“ schaffen, in dem sich ukrainische Erzieher:innen und Lehrkräfte selbst um Betreuung und Bildung der unversorgten Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine kümmern – zumindest solange, wie der Staat seiner Pflicht zu gleichwertigen Bildungs- und Betreuungsangeboten nicht nachkommen könne.

Es ist nicht vertretbar, den geflüchteten Kindern und Jugendlichen in den nächsten acht Monaten Bildung und damit Perspektiven vorzuenthalten.

Aus dem Papier von „Schöneberg hilft“ und Bertelsmann-Forschern

Das bedeute dann, dass das vorrangige Ziel dann nicht das Erlernen der deutschen Sprache sei, sondern der Aufbau und das Angebot von „strukturierten und betreuten Tagesabläufen in der Muttersprache, orientiert am ukrainischen Bildungssystem“. Wenn sich die Platzsituation insgesamt entspanne, sollten „selbstverständlich“ alle Kinder und Jugendlichen in das deutsche Regelsystem integriert werden.

„Ein temporäres Nothilfeprogramm bis Ende 2023 würde neue Chancen der Anschlussfähigkeit wenigstens an das Heimatbildungssystem eröffnen und den vielen ukrainischen Pädagog:innen in der Stadt bezahlte Arbeit und Sinnstiftung verschaffen“, legen Kuhn, Pfafferott und Zorn da und zählen auch gleich auf, was benötigt würde:

  • Freie Träger, die die Schnittstelle zwischen der deutschen Bildungsadministration und den Betroffenen herstellen und moderieren,
  • Abstimmungsgespräche mit der ukrainischen Botschaft bzw. Vertreter:innen des ukrainischen Bildungssystems,
  • externe Räumlichkeiten in der Nähe der jetzt in Planung befindlichen Großunterkünfte der Sozialverwaltung,
  • leistungsfähige WLAN-Netze an diesen Standorten, die es erlauben, das hervorragende Onlineangebot des ukrainischen Bildungssystems effektiv einzusetzen,
  • Finanzen zur Absicherung der gesamten Logistik sowie für Ersteinrichtung, Personalkosten, Dolmetscher:innen, etc. sowie
  • Klärung der arbeitsrechtlichen Möglichkeiten zur Beschäftigung von ukrainischen Pädagog:innen jenseits der komplexen Regelungen des Tarifvertrags der Länder.

Da bei ihren vorgeschlagenen Unterrichtsangeboten Gruppen auch mehr als zwölf Personen umfassen könnten, wären „200 ukrainische Lehrkräfte und Pädagog:innen in der Lage, 2500 bis 3000 Kinder und Jugendliche zu betreuen“, erwarten die drei Schulfachleute. Für diese Angebote sollten freie Träger, Stiftungen und Hilfsorganisationen eingebunden werden, denn die Bereitschaft von Bürgerinnen und Bürgern, sich ehrenamtlich zu engagieren, sei „nach wie vor gegeben“.

Ein solches Bildungsangebot werde bedeuten, die theoretisch bestehende Schulpflicht mit der Nutzung dieses Angebots „als vorerst erfüllt anzusehen“. Das sei aber allemal besser, als den geflüchteten Kindern und Jugendlichen in den nächsten acht Monaten „Bildung und damit Perspektiven vorzuenthalten“.

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