GIGA Focus Lateinamerika

Wenn der Ton nicht alles ist: Joe Biden und Lateinamerika

Nummer 1 | 2021 | ISSN: 1862-3573


  • Ein kolumbianischer Migrant in einem Frisörsalon in Tapachula, Mexiko, sieht die Vereidigung von Joe Biden als Präsident der Vereinigten Staaten während der Arbeit.
    © Reuters / Carlos Jasso
    Ein kolumbianischer Migrant in einem Frisörsalon in Tapachula, Mexiko, sieht die Vereidigung von Joe Biden als Präsident der Vereinigten Staaten während der Arbeit.
    © Reuters / Carlos Jasso

    Joe Bidens Wahl hat viele Erwartungen geweckt. Politische Traditionen und der vorherrschende überparteiliche Konsens über die US-Politik für die westliche Hemisphäre lassen Veränderungen eher im Ton als in der Substanz erwarten. Vier Themen werden die Agenda bestimmen.

    • COVID-19: Angesichts der Pandemie, die in der Region wütet, wird eine Rückkehr zu „business as usual“ den drängenden wirtschaftlichen, politischen und sozialen Bedürfnissen der lateinamerikanischen Bevölkerung nicht gerecht. COVID-19 hat die strukturellen Probleme der Region offengelegt, einschließlich, aber nicht nur, Armut, Ungleichheit und Unsicherheit.

    • Migration: In der Hoffnung, die Einwanderung in die USA zu reduzieren, hat Biden versprochen, die Mittel für die zentralamerikanischen Länder um 4 Mrd. USD zu erhöhen. Der Präsident will eine bisher noch nicht definierte, vermutlich leichte Migrationsreform durchführen. Eine Strategie für den Umgang mit den übrigen Herausforderungen der Hemisphäre (z.B. der Krise in Venezuela) ist jedoch nicht zu erkennen.

    • Demokratie: Nicht jeder Präsident ist mit dem Ergebnis der Wahl zufrieden. Von Mexiko über Mittelamerika bis hin zu Brasilien identifizierten sich einige Regierungen mit Donald Trumps konfrontativer Rhetorik und profitierten von seinem fehlenden Interesse an ihren internen Angelegenheiten. Rechtsextreme Machthaber fürchten das Ende des „Freifahrtscheins“ für ihre antidemokratischen Worte und Taten.

    • Regionales und globales Szenario: Im Kontext der zunehmenden wirtschaftlichen und diplomatischen Präsenz Chinas in Lateinamerika, klingt Bidens Anspruch, die „hemisphärische Führungsrolle“ der USA wiederherzustellen, hohl.

    Fazit

    Trumps Handeln und die politischen Gräben, zu deren Vertiefung er beigetragen hat, haben die USA zu einem weniger verlässlichen Partner gemacht. Lateinamerika muss daher eigene Antworten und neue strategische Partner finden. Bei der Bewältigung seiner strukturellen Probleme und der COVID-19-Krise ist die Region auf sich gestellt. Lateinamerika und die Europäische Union müssen entweder mehr relevante, autonome gemeinsame strategische Initiativen ergreifen oder sich damit abfinden, bei den handelspolitischen, technologischen und geopolitischen Bemühungen anderer, nur Zuschauer zu sein.

    Trumps schändliches Vermächtnis

    Biden wird sich in seiner Beziehung zu Lateinamerika vielen Herausforderungen stellen müssen. Eine der ersten ist das schädliche Vermächtnis, das die Trump-Administration hinterlassen hat. Trumps Politik gegenüber Lateinamerika lässt sich in vier Worten zusammenfassen: Migration, NAFTA (North American Free Trade Agreement), Venezuela und Kuba. Oder auch in drei: Desinteresse, Ignoranz und Rassismus. Trump hat Lateinamerika als Präsident nur ein einziges Mal besucht. Und selbst dann war es nur für den G20-Gipfel. Auch seine Teilnahme am Hemispheric Summit of the Americas sagte er als erster US-Präsident drei Tage vor dem Gipfel ab. All dies signalisierte sein chronisches Desinteresse an der Region. Im Gegensatz dazu reiste Obama 15-mal nach Lateinamerika (Dannemann 2018).

    Schon in seiner ersten Präsidentschaftskampagne nannte Trump den Handel mit Mexiko und die Migration aus Zentralamerika als die beiden wichtigsten Themen auf seiner bilateralen regionalen Agenda. Eine Politik für seine Beziehungen zu Lateinamerika fehlte, abgesehen von imperialistischen Verweisen seiner Administration auf die Rückkehr der Monroe-Doktrin. Die zentralamerikanischen Länder zwang er, Mexiko als sicheren Drittstaat anzuerkennen. Die Trump-Administration setzte auch den geschützten Status von Salvadorianerinnen und Salvadorianern sowie Honduranerinnen und Honduranern in den USA aus, stoppte das Programm zum Schutz von Kindern (Deferred Action for Childhood Arrivals, DACA) und versuchte, dieses auslaufen zu lassen. Bilder von Kindern in Käfigen, die gewaltsam von ihren Familien getrennt wurden, schockierten die Welt. Zusätzlicher Schaden in den Beziehungen zur Region entstand dadurch, dass Trump paradoxerweise die Hilfe für die zentralamerikanischen Länder mit dem Vorwurf kürzte, diese würden nicht genug tun, um die Migration ihrer Bürgerinnen und Bürger in die USA zu verhindern.

    Wie im Rest der Welt schadete die Trump-Regierung auch dem interamerikanischen und südamerikanischen Multilateralismus. Das Paradebeispiel hierfür war der Verstoß gegen die Tradition, dass der Präsident der Interamerikanischen Entwicklungsbank (IDB) aus Lateinamerika stammte. Im Jahr 2020 wurde der US-Amerikaner Mauricio Claver-Carone gewählt, obwohl verschiedene lateinamerikanische Regierungen protestierten, Claver-Carone über keine Erfahrung verfügte und übermäßig McCarthyistische Positionen vertrat.

    Nach unbegründeten Anschuldigungen, die Panamerikanische Gesundheitsorganisation (PAHO) würde den Einsatz kubanischer Ärzte erleichtern, um den Inselstaat zu „stärken“, setzten Brasilien und die USA ihre Zahlungen aus. Damit ließen sie die PAHO genau in dem Moment schutzlos und unterfinanziert zurück, als es darum ging, lateinamerikanische Länder in der COVID-19-Pandemie zu unterstützen.

    Darüber hinaus erklärte Trump im Einklang mit seinem globalen Diskurs, die wachsende wirtschaftliche Präsenz Chinas in der Region zur Bedrohung für die Sicherheit der USA. Die von ihm ins Leben gerufene Initiative „Growth in the Americas“ sollte Investitionen des US-Privatsektors in lateinamerikanische Energie- und Infrastrukturprojekte erleichtern und fördern. Einige sahen darin ein Gegengewicht zu globalen chinesischen Infrastrukturprojekten (wie der Belt and Road Initiative) und deren massiven Krediten und Investitionen in der Region. Nichtsdestotrotz lässt sich bisher keine Wirkung der US-Initiative erkennen.

    Während seiner jüngsten Wiederwahlkampagne priorisierte Trump den Angriff auf Venezuela und Kuba im Stil des Kalten Krieges. Damit versuchte er sich die Latino-Stimmen in Florida zu sichern. Er beschuldigte Biden ein Castro-Chavistischer Sozialist zu sein. Seine Venezuelapolitik spielte die wichtigsten Karten schnell und ohne sichtbare Ergebnisse aus: die Anerkennung von Juan Guaidó als Präsident von Venezuela sowie ein Ölembargo. Außer der Verschlimmerung der Armut weiter Teile der venezolanischen Bevölkerung änderte diese Politik wenig.

    In Bezug auf Kuba machte die Trump-Administration die von Obama vorangetriebenen Maßnahmen zur Wiederherstellung der Beziehungen mit dem Inselstaat rückgängig. Er verhängte weitere Sanktionen gegen Geldüberweisungen und Beschränkungen für Reisen von US-Bürgern in das Land. Darüber hinaus setzte er wenige Tage vor seinem Ausscheiden aus dem Amt Kuba willkürlich wieder auf die Liste der Länder, die den Terrorismus unterstützen. Auch wenn er behauptet, einige dieser Maßnahmen rückgängig machen und à la Obama vorankommen zu wollen, sollten wir nicht erwarten, dass Biden darüber hinausgehen wird. Jenseits seiner Worte und Taten, könnte Trumps Niederlage ein Schlag für die rechtsextremen lateinamerikanischen Machthaber bedeuten, die ihren wichtigsten ideologischen Verbündeten verloren haben.

    Die Trägheit der US-Lateinamerikapolitik

    Es besteht kein Zweifel daran, dass die Regierung von Joe Biden den Ton in den Beziehungen zu Lateinamerika und der Karibik ändern wird. Biden hat versprochen, die Vernachlässigung der Region durch Donald Trump und dessen Inkompetenz im Umgang mit ihr zu korrigieren. Allerdings wird eine Veränderung im Ton und in Nuancen nicht ausreichen, wenn sich die Regierung den Herausforderungen stellen will, ein echter Partner für die lateinamerikanischen Länder zu sein. Wir sollten uns daran erinnern, dass Biden selbst in der Vergangenheit und bereits nach seiner Vereidigung rassistische Positionen zum Ausdruck gebracht hat, auch wenn er nicht versucht hat, dies politisch zu kapitalisieren, wie es Trump getan hat. Als Biden zum Beispiel nach der niedrigen Impfrate von Afroamerikanern und Latinos gefragt wurde, behauptete er, dies liege daran, dass sie nicht wussten, wie sie online gehen sollten, um ihre Termine zu vereinbaren. Vor Jahren war er auch an einer Polemik beteiligt, weil er behauptete, der damalige Senator Obama sei der „erste Mainstream-Afroamerikaner, der sich gut ausdrücken kann, klug und sauber ist und gut aussieht“ (CNN 2007). Darüber hinaus sind sich politische Kommentatoren einig, dass Biden der Region mehr Aufmerksamkeit schenken wird. Sie argumentieren, dass er seit dem Ende des Kalten Krieges der US-Präsident mit der besten Kenntnis der, und Erfahrung in der, Region ist.

    Dennoch bedeutet Erfahrung nicht unbedingt Interesse – vor allem, wenn es darum geht, strukturelle Tendenzen und überparteiliche Vereinbarungen zu überwinden, um signifikante Veränderungen herbeizuführen. Auch wenn die USA in der Region nach wie vor die führende Großmacht sind, haben sie sich aus Lateinamerika zurückgezogen, lange bevor Trump bei The Apprentice auftrat (Vera, Defelipe und Castro 2017). Jenseits der Rhetorik ist klar, dass die Region auf der außenpolitischen Agenda der USA nach unten gerutscht ist. Allerdings bleiben die USA der wichtigste Handelspartner der Region. Im Jahr 2019 waren sie auch die zweitgrößte Quelle ausländischer Direktinvestitionen (FDI) nach der Europäischen Union ­(CEPAL 2020a: 41-42).

    In diesem Zusammenhang weckte die Wahl Obamas nach vielen Auseinandersetzungen mit George W. Bush hohe Erwartungen an eine andere und engagiertere Politik in der Hemisphäre. Ein wichtiger Meilenstein war die Annäherung zwischen den USA und Kuba im Jahr 2015, die eine nahezu einstimmige Forderung aus der Region erfüllte. Das Embargo blieb allerdings bestehen. In vielen anderen Aspekten, wie etwa einer neuen Migrations- und Drogenpolitik, blieb die Regierung Obama jedoch hinter den Erwartungen zurück. So versuchte der damalige Vizepräsident Biden auf der Sondersitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen zum Weltdrogenproblem 2016 Kolumbien, Guatemala und Mexiko davon abzubringen, eine Änderung der globalen Drogenpolitik vorzuschlagen, die dem strikten Verbotskurs der USA widersprochen hätte. Seine jüngste Bemerkung, dass niemand wegen Drogenkonsums ins Gefängnis gehen sollte, könnte zumindest ein toleranteres Umfeld für diejenigen lateinamerikanischen Länder schaffen, die die Drogenpolitik als Problem der öffentlichen Gesundheit und nicht der Kriminalität behandeln wollen.

    Kurzum, es gibt Gründe, keine überwältigenden Veränderungen in der US-Lateinamerikapolitik zu erwarten und die Auswirkungen eines veränderten Tonfalls nicht überzubewerten. Umgekehrt könnten die eher linken Akteure innerhalb und außerhalb der Demokratischen Partei, die Bidens Wahl unterstützt haben, Druck zugunsten substanzieller politischer Veränderungen auf die Regierung ausüben. Dort sollten wir nach möglichen Neuerungen Ausschau halten.

    Bidens Weg in die Zukunft: ein geteiltes Land, eine polarisierte Hemisphäre

    Biden findet sowohl im In- als auch im Ausland ausgetretene Wege vor. Die Schäden am internationalen Image und den Allianzen der USA bestehen ebenso fort wie die Radikalisierung der rechtsextremen Gruppen, die Trump unterstützt haben. Diese beiden Fronten könnten es für die Biden-Administration schwierig machen, eine umfassende „Lateinamerikastrategie“ zu entwickeln. Die Heterogenität und die ideologische Polarisierung der Region erfordern bereits jetzt eine differenzierte Politik, die über einen one-size-fits-all-Ansatz hinausgeht. Drei spezifische Herausforderungen stehen auf Bidens Agenda: die Klimakrise, die Situation in und um Venezuela sowie die Unterstützung von Demokratie und Menschenrechten.

    Die Klimakrise

    Das Versprechen des neuen US-Präsidenten, sich für den Kampf gegen den Klimawandel einzusetzen, wurde von einigen lateinamerikanischen Präsidenten und sozialen Bewegungen mit Unterstützung, von anderen mit verächtlichen Blicken, aufgenommen. So kritisierte Biden während seines Wahlkampfes Bolsonaros Reaktion auf die Brände im Amazonasgebiet und versprach, die Welt zu deren Schutz zu mobilisieren. Im Gegenzug war der brasilianische Präsident weltweit einer der letzten Präsidenten, die Bidens Sieg anerkannten, und Trump vor, während und nach dem Wahlkampf öffentlich, auch bei den Wahlbetrugsvorwürfen, unterstützte.

    Nichtsdestotrotz gab es in einer kürzlich vom brasilianischen Außenministerium an die USA gesendeten Botschaft einen etwas sanfteren Ton in Umweltfragen. Allerdings betonte die Note, Biden solle sich aus der brasilianischen Politik heraushalten und sich stattdessen auf gemeinsame Interessen fokussieren. Teile der US-Zivilgesellschaft haben das Weiße Haus bereits aufgefordert, keine Handelsabkommen mit Brasilien zu unterzeichnen. Grund dafür sind frühere Gespräche mit der Trump-Administration zu diesem Thema.

    Generell sollte die US-Regierung nicht aus den Augen verlieren, dass ein bedeutender Teil der Wirtschaft der Region nach wie vor stark von der Nutzung und dem Export fossiler Brennstoffe abhängt. Daher sind konkrete Alternativen erforderlich, einschließlich finanzieller Unterstützung, Technologietransfer und Umschulung von Arbeitskräften.

    Venezuelas Schlamassel

    Die Situation in Venezuela verschlechtert sich weiter und es gibt keine einfachen Lösungen. Die meisten Optionen, die der internationalen Gemeinschaft zur Verfügung stehen, scheinen weitgehend unwirksam zu sein. Die Biden-Administration hat bereits erklärt, dass sie in absehbarer Zeit nicht mit Maduro verhandeln wird und Guaidó weiterhin als rechtmäßigen Präsidenten Venezuelas anerkennt. Ein grundlegender strategischer Wandel ist also nicht in Sicht, abgesehen von dem Verzicht auf unverantwortliche „alle Optionen liegen auf dem Tisch“-Behauptungen. Trotzdem berichten einige unbestätigte Quellen, dass Biden ein Team zusammenstellt, um freie und faire Wahlen im Austausch für die Aufhebung der Sanktionen auszuhandeln (Jairissati 2021). Offizielle Kommentare gibt es bisher aber nur über den eher „strategischen“ oder „intelligenten“ Einsatz von Sanktionen. Außerdem hat Biden versprochen, Kolumbien als das Land, das die meisten venezolanischen Einwanderer aufnimmt, finanziell stärker zu unterstützen. In dieser Hinsicht könnte seine Regierung andere lateinamerikanische Länder ermutigen, dem Beispiel Kolumbiens zu folgen und mehr Venezolaner und Venezolanerinnen aufzunehmen und diesen rechtlich und humanitär zu helfen.

    Demokratie und Menschenrechte

    Lateinamerikanische Regierungen und die Zivilgesellschaft erwarten von Biden, dass er autoritäre und menschenrechtsverletzende Tendenzen in der Region kritisiert. Dies muss im Gegensatz zu Trumps einseitigem Ansatz stehen, der nur die von ihm sogenannte „Troika der Tyrannei“ (Kuba, Nicaragua und Venezuela) kritisierte. Im Gegensatz dazu schwieg er zu den Übergriffen von Bolsonaro, Alejandro Giammattei, Nayib Bukele und anderen rechten Präsidenten. Konsequente Politik bedeutet auch, die Legitimität des Generalsekretärs der Organisation Amerikanischer Staaten, Luis Almagro, infrage zu stellen, der die Delegitimierung der bolivianischen Wahlen mit unzureichenden und letztlich falschen Beweisen vorantrieb. Almagro behauptete auch ohne Beweise, Maduro stecke hinter der Welle legitimer sozialer Proteste in der Region im Jahr 2019.

    Eine der Herausforderungen ist hier wie in vielen anderen Bereichen der mangelnde Konsens der lateinamerikanischen Positionen. Viele Länder der Region sind intern und extern entlang ideologischer Achsen polarisiert, was die Koordination einer gemeinsamen Haltung zur Verteidigung der Demokratie eher unwahrscheinlich macht. Diese Spaltung hat bereits zum Zerfall der Union Südamerikanischer Nationen und zur Lähmung der Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten geführt. Eine äußerst besorgniserregende Entwicklung ist zudem, dass die aktuelle Pandemie die demokratischen Institutionen noch stärker unter Druck setzt.

    Ein guter Ansatzpunkt wäre, Druck auf die kolumbianische Regierung auszuüben, die Umsetzung des Friedensprozesses zu beschleunigen. Dazu gehört auch der Schutz des Lebens der sozialen Aktivistinnen und Aktivisten und ehemaligen Guerilla Ex-Kombattantinnen und Ex-Kombattanten, die systematisch ermordet werden. Die Regierung Duque ergreift keine entschiedenen Maßnahmen, um dies zu verhindern. Glücklicherweise scheint es so, als ob die Biden-Administration begonnen hat, in dieser Hinsicht zu handeln, indem sie die kolumbianische Regierung um Klärung in dieser Angelegenheit gebeten hat. Es bleibt jedoch abzuwarten, ob der neue US-Präsident bereit sein wird, über die vorhersehbaren Ablenkungsversuche von Duque hinaus Druck für konkrete Ergebnisse auszuüben.

    Nichtsdestotrotz könnten lateinamerikanische Regierungen nach dem Aufstand im Kapitol und Trumps Freispruch in seinem zweiten Amtsenthebungsverfahren weniger geneigt sein, Demokratielektionen von den USA anzunehmen. Außerdem ist die Wahrnehmung eines bedeutenden Teils der Region seit Jahrzehnten, dass Washington mehr nach seinen strategischen und geopolitischen Interessen interveniert als um demokratische Herrschaft zu fördern (Kurtenbach 2019). Biden könnte ein ähnliches Problem haben, wenn er das Korruptionsproblem in der Region nach Trumps Skandalen angeht. Aufgrund der Straflosigkeit im Fall Odebrecht und anderen Fällen sollte sich dies nicht nur auf das nördliche Dreieck konzentrieren, wie seine Pläne nahelegen. Im Kampf gegen die Korruption wird es entscheidend sein, die Autonomie der jeweiligen Justiz zu stärken und zu schützen. Es wäre ein großartiges Signal, wenn er sein Versprechen einlösen würde, eine regionale Institution zur Korruptionsbekämpfung zu schaffen und dabei zu helfen, die multilaterale Arbeit von staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren sowie internationalen Institutionen zu koordinieren, einschließlich der Untersuchungskommissionen der Vereinten Nationen, wie diejenige, deren Mandat in Guatemala vom ehemaligen Präsidenten Jimmy Morales nicht erneuert wurde.

    Rasch wechselnde nationale und regionale Pfade

    COVID-19 hat noch einmal die strukturellen Schwächen der lateinamerikanischen Volkswirtschaften aufgezeigt (CEPAL 2020b: 15). Das Wirtschaftswachstum wird schätzungsweise um 9,1 Prozentpunkte sinken, der Anteil der Armen an der Bevölkerung beträgt 37,3 Prozent. Die Arbeitslosigkeit wird etwa 13,5 Prozent betragen, die Ungleichheit hat und wird sich weiter vertiefen, und die Auslandsverschuldung wird um 9,3 Prozentpunkte steigen. Fünfzehn Jahre sozialer Fortschritt und ein Jahrzehnt wirtschaftlichen Fortschritts drohen gänzlich verloren zu gehen, wenn nicht sofort entschiedene Maßnahmen ergriffen werden (CEPAL 2020b: 15). Darüber hinaus hat die Pandemie in der gesamten Region den prekären Zustand der Sozialversicherungs- und Gesundheitssysteme sowie die hohe Informalität des Arbeitsmarktes (etwa 54 Prozent der Arbeitskräfte) aufgezeigt (Blofield, Giambruno und Filgueira 2020). Aufgrund der problematischen Situation in den Aufnahmestaaten sind auch die Rücküberweisungen von Migrantinnen und Migranten zurückgegangen. Diese Entwicklung ist generell schädlich für die Region, trifft insbesondere die Volkswirtschaften, die am meisten von Rücküberweisungen abhängen (in Haiti 33 Prozent des Bruttoinlandsprodukts) (CEPAL 2020b: 18). Dabei sind in diesen Zahlen noch nicht einmal die direkten negativen Folgen von COVID-19 im Jahr 2021 berücksichtigt.

    Es stellt sich auch die Frage, wie die lateinamerikanischen Länder einer Rezession und Reprimarisierung ihrer Volkswirtschaften begegnen können. Diese werden unter anderem durch die mit den Industrienationen abgeschlossenen Freihandelsabkommen (FTAs) und den verstärkten Handel mit China verursacht. Im Jahr 2013 war der Anteil der lateinamerikanischen Exporte von Primärprodukten nach China (73 Prozent) höher als in den Rest der Welt (41 Prozent) (Santana 2018). Damit Lateinamerika mehr als Rohstoffe exportiert, sind verstärkte Investitionen in Forschung und Entwicklung, sowie die Schaffung regionaler Wertschöpfungsketten (Regional Value Chains, RVCs), notwendig.

    Diese RVCs können auch den Kampf gegen die Klimakrise voranbringen. Zum Beispiel exportiert Ecuador das Balsaholz für Windturbinen, Brasilien stellt letztere her, und Chile plant, stark in die Windenergie zu investieren (Osborn 2021). Durch die Kombination dieser Inputs kann viel bei der Beschaffung sauberer Energie erreicht werden, auch im Hinblick auf die Steigerung des intraregionalen Wertschöpfungshandels. Diese Maßnahmen können die Qualität der Arbeitsplätze verbessern, die Abhängigkeit von Kohle und Öl verringern und die gigantische Rolle von Rohstoffen im lateinamerikanischen Export reduzieren.

    In diesem herausfordernden Kontext könnten mehr Lateinamerikaner und Lateinamerikanerinnen versuchen, in die USA zu migrieren. Daher liegt es in Bidens Interesse, die Hilfe für die Region radikal aufzustocken, und zwar über die 4 Mrd. USD hinaus, die Zentralamerika versprochen wurden. Geringfügige Migrationsreformen und die humanere Behandlung von Einwanderern werden helfen, greifen aber zu kurz, wenn es um die strukturellen Problemlagen geht. Migranten und Migrantinnen und die Region als Ganzes brauchen weit mehr als die vorübergehende Aussetzung von Inhaftierung. Inwieweit die Biden-Administration in diesen Punkten vorankommen kann, wird durch die Mehrheit der Demokraten im Kongress begünstigt.

    Allerdings präsentiert sich Biden in der internationalen Politik nicht als Akteur tief greifender Veränderungen, die über die Umkehrung von Trumps problematischsten Politiken hinausgehen. Es bleibt abzuwarten, wie weit er bereit ist, über das hinauszugehen, was er stolz als seine „Marke“ bezeichnet (Washington 2020). Bislang sieht es so aus, als ob seine Marke nicht die Antworten liefern wird, die Lateinamerika und die Karibik brauchen. So wird es auch an den regionalen Führungspersönlichkeiten liegen, die USA zu mehr Unterstützung und Solidarität zu drängen, während sie ihre Partner- und Finanzierungsstrukturen diversifizieren. Einige Forscherinnen und Forscher befürchten jedoch, dass es keine führenden lateinamerikanischen Stimmen geben könnte, die die US-Agenda mitgestalten, was den Raum für Hardliner aus Miami offenlassen könnte, um die Lücke zu füllen (Long 2021). Besonders in dieser schwierigen Zeit wird die Region jede Hilfe und verstärkte Partnerschaft, die sie jenseits der USA erhält, lange in Erinnerung behalten und ihre Eingliederung in eine zunehmend ungeordnete multipolare Welt beeinflussen.

    Jenseits vielfältiger Veränderungen müssen die aktuellen politischen Übergänge Lateinamerikas in ihrem Kommen und Gehen untersucht werden. Hier könnten einige Beispiele angebracht sein: Tatsächlich kehren einige linksgerichtete Regierungen ins Amt zurück. Allerdings erfreut sich auch die rabiate Politik rechter Machthaber großer Beliebtheit. Konservative Regierungen, wie die kolumbianische, führen eine progressivere Migrationspolitik für Venezolaner und Venezolanerinnen ein, während das ebenfalls konservativ geführte Chile sie ohne Rücksicht auf ihre Qualen abschiebt. In der ersten Runde der ecuadorianischen Wahlen standen sich unter anderem eine umverteilungsfreundliche, aber immer noch extraktivistische Linke und eine eher ökologische Linke gegenüber. In diesem Umfeld von Ideen müssen Trendanalysen und Politiken diese Nuancen anerkennen.

    Externe Akteure müssen diese Komplexität verstehen, wenn sie die Weiterentwicklung des Wohlfahrtsstaates, die sozialen Bewegungen und einige politische Akteure unterstützen wollen. In dieser Hinsicht können sie auch dazu beitragen, dem McCarthyismus derjenigen aktiv entgegenzutreten, die legitime soziale Proteste als gefährliche Polarisierung oder gar als kommunistische Aufstände nach dem Vorbild der venezolanischen Regierung ansehen. Dies kann dazu beitragen, die lateinamerikanische neopatriotische, antiglobalistische, extreme Rechte einzuhegen, die auf diese Weise versucht, progressive Reformen zu bekämpfen (Sanahuja und López Burian 2020).

    Pandemiehilfe, COVID-19-Diplomatie und die multilaterale Frage

    Das größte Rätsel ist, ob der neue US-Präsident und seine Regierung der Region während und nach der aktuellen Pandemie helfen werden, und wenn ja, wie. In schlimmster nationalistischer Manier hortete Trump während der ersten Wellen des Virus Atemschutzgeräte und andere medizinische Hilfsmittel. Traurigerweise ist das Gleiche mit Impfstoffen passiert. Die reichsten Länder haben zuerst ihre Versorgung sichergestellt und sich geweigert, die Patente für die ärmsten Länder zu öffnen, damit diese sie produzieren können. Vorhandenen Impfstoff haben sie nicht umverteilt oder gleichen Zugang gewährt. Vor diesem Hintergrund schließen einige – inzwischen sogar immer mehr – Länder mit niedrigem und mittlerem Einkommen Verträge mit Russland zum Erwerb des erschwinglicheren Sputnik-V- Impfstoffs ab. Auch China hat einen neuen Impfstoff zur Versorgung der „Dritten Welt“ zugelassen. Außerdem haben die Chinesen im vergangenen Jahr lateinamerikanische Länder mit Beatmungsgeräten und anderen medizinischen Hilfsmitteln versorgt. Damit haben sie ihre Diplomatie und Solidarität mit der Region gestärkt, obwohl das asiatische Land bei Regierungen und Eliten, die historisch gesehen Washing­ton nahestehen, geopolitisch Widerstand hervorruft.

    Was könnte Biden in diesem Zusammenhang konkret tun? Zunächst einmal:

    • Die Freigabe des Impfstoffpatents unterstützen und dessen regionale Produktion fördern.

    • Die PAHO und das regionale Büro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit erheblichen Mitteln und Unterstützung versorgen. Spenden werden hierbei jedoch nicht ausreichen, der Impfstoff muss ein globales öffentliches Gut werden.

    • Erleichterung der Nutzung der Sonderziehungsrechte des Internationalen Währungsfonds, um den lateinamerikanischen Ländern Zugang zu mehr Geld zu verschaffen. Für die Armutsbekämpfung ist dies jedoch nur dann effektiv, wenn diese Mittel nicht in das Finanzsystem fließen, sondern in soziale Schutzprogramme oder den Kauf von Impfstoffen.

    • Radikale Aufstockung der Auslandshilfen und der Investitionen in der Region in kritische Bereiche wie Infrastruktur, saubere Energiewende und landwirtschaftliche Entwicklung.

    Leider sind bisher keine Schritte in diese Richtung unternommen worden. Vor diesem Hintergrund könnten Lateinamerika und die Karibik aufgrund ihrer gemeinsamen Interessen an der Überwindung der Pandemie und der Förderung ihrer Entwicklungsinteressen entschlossener untereinander und mit anderen Ländern des Globalen Südens zusammenarbeiten.

    Darüber hinaus kann Lateinamerika aufgrund gemeinsamer Werte und des Eintretens der EU für den Multilateralismus ein wichtigerer Partner für die EU auf der internationalen Bühne werden. Obwohl die Debatten zur Geltung demokratischer Regeln in der Region und ihren multilateralen Institutionen Lateinamerika und die Karibik nicht zu einem stets verlässlichen Partner macht (Kurtenbach 2019), bemühen sich ihre Zivilgesellschaft und Teile ihrer politischen Klasse stetig um die Stärkung nationaler und internationaler Institutionen. Darüber hinaus wird es an der EU liegen, gemeinsame Aktionen wie die Allianz für Multilateralismus zu intensivieren und sich substanzieller für die Region zu engagieren. Zum Beispiel könnte die EU in der Zeit der Pandemie dieses Engagement dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie die in Lateinamerika benötigten nachhaltigen Kredite der internationalen Finanzinstitutionen beschleunigt. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, die Demokratisierung der Global Governance über Stimmrechte voranzutreiben und Lateinamerikanerinnen und Lateinamerikaner für Führungspositionen in multilateralen Institutionen zu unterstützen (Benner 2019). Eine erweiterte und vertiefte Partnerschaft kann dazu beitragen, dass Lateinamerika und die EU im Handelskrieg zwischen den USA und China, bei institutionellen und normativen globalen Reformen und auf anderen geopolitischen und wirtschaftlichen Spielfeldern, nicht zu globalen Zuschauern werden.


    Fußnoten


      Literatur

      Lektorat GIGA Focus Lateinamerika

      Petra Brandt

      Editorial Management


      Wie man diesen Artikel zitiert

      Rafael Castro Alegría (2021), Wenn der Ton nicht alles ist: Joe Biden und Lateinamerika, GIGA Focus Lateinamerika, 1, Hamburg: German Institute for Global and Area Studies (GIGA), https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-71940-5


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