Gemeinsam ein NesT bilden

Willkommen im neuen Zuhause
Gemeinsam ein NesT bilden
Autorin: Cornelia Heim Illustrationen: Alexander Glandien 20.04.2021

Damit besonders schutzbedürftige Geflüchtete in Deutschland richtig ankommen können, ist lebensnahe Unterstützung vor Ort wichtig. Das ist der Grundgedanke des Projekts „Neustart im Team“. Ehrenamtliche tun sich als Gruppe zusammen und betreuen Schutzpersonen gemeinsam. Wie sieht so ein Engagement konkret aus? Ein Mentor*innen-Team erzählt.

Die Planungen begannen schon an Ostern 2019. Doch erst kurz vor Weihnachten desselben Jahres – fast ein Dreivierteljahr später – wurde es konkret. Bis dahin wusste das Team nicht, wer kommt und vor allem wie viele kommen. Ein Single, ein Paar oder doch eine Familie mit Kindern? Beantwortet wurde das Rätsel erst, 14 Tage bevor das neue Leben der Familie S. in einer mittelgroßen deutschen Stadt seinen Anfang nehmen sollte. „Es fühlte sich gleich sehr groß an“, erzählt Maryam N., und ob der Größe der Aufgabe bekommt sie auch jetzt noch eine Gänsehaut: „Wir retten eine Familie.“ N. ist diplomierte Sozialpädagogin. Beim Deutschen Roten Kreuz (DRK) ist sie in der Integrationsagentur angestellt und folglich beruflich damit beschäftigt, Zugewanderten den Einstieg in die Gesellschaft zu erleichtern. Doch dem Projekt Neustart im Team wohnt noch eine neue Dimension inne. 1,4 Millionen Menschen stuft das Flüchtlingswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) als „besonders schutzbedürftige Flüchtlinge“ ein. Sie sitzen fest. In den Flüchtlingslagern, in die es sie einmal verschlagen hat, geht es für sie weder zurück in ihre Heimat noch voran in eine unbekannte Zukunft. „Es sind die Bedürftigsten der Bedürftigen“, erklärt Mentor Hussien K., „sie haben nicht mal das Geld für Schlepper.“

Umzug in ein neues Zuhause
© Alexander Glandien

Im Team zum Neustart

Diese Schutzbedürftigen aus ihrer misslichen Lage herauszuholen bezeichnet das UNHCR als „resettlement“. Die Bundesregierung hat sich verpflichtet, 10.000 dieser buchstäblich gestrandeten Menschen aufzunehmen. 500 davon sollen neue Wurzeln schlagen – mithilfe des eigens geschaffenen Projekts Neustart im Team, kurz NesT. Die Grundidee: „Staat und Zivilgesellschaft arbeiten Hand in Hand, um den Schutzbedürftigen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen“, erklärt Maryam N. Dazu schließt sich eine Gruppe von Menschen als Mentor*innen-Team zusammen und leistet Hilfestellung bei alltäglichen Problemen: von Behördengängen bis zum Zahnarztbesuch, vom Einkaufen bis zur Einschulung.

Nachhaltiges Ankommen

Doch der Reihe nach: „Unser Chef hat uns von der Initiative berichtet“, erzählt Mentorin Hoda E., die wie Hussien K. ebenfalls beim DRK beschäftigt ist. Und so bilden die drei Arbeitskolleg*innen N., K. und E. den Kern des NesT-Teams, das sich im Frühjahr 2019 formierte. Die Schar der Helfer*innen wuchs auf bis zu zehn Personen. Sieben davon waren bereit, sich auch namentlich als Mentor*innen zu verpflichten, die anderen wollten eher lose und nach Bedarf unterstützen. Maryam N. wurde zur Hauptmentorin, Clemens N., Rentner und seit 25 Jahren in der Begleitung von Geflüchteten engagiert, ihr Stellvertreter. Das Besondere an NesT, das garantierte Bleiberecht, hat den Rentner für das Projekt gewonnen. Kein langwieriges Asylverfahren, keine Abschiebung. „Nachhaltigkeit“, wie Clemens N. es formuliert. Der Supporterkreis, so viel sei vorweggenommen, sollte jedoch schrumpfen. Corona und die Sorge vor Ansteckung waren der Hauptgrund. Bei der Stange geblieben sind das DRK-Trio sowie Clemens N. und seine Ehefrau Bettina.

Wohnung gesucht

Am Anfang traf sich die NesT-Gruppe regelmäßig, es gab viel zu besprechen. Das Wichtigste: eine Bleibe auftreiben. Die ersten zwei Jahre, so sieht es das Projekt vor, sollte das Mentor*innen-Team die Nettokaltmiete übernehmen. „Ein großer Knackpunkt“, stöhnt Maryam N. Die Gruppe schrieb Flyer, klopfte bei Firmen und potenziellen Sponsor*innen an. Sogar die Stadt wurde angefragt. Nichts. Und plötzlich löste ein Sozialpfarrer mit einem einzigen Telefonat das Dilemma. Es kommt den Mentor*innen noch heute vor wie ein Wunder: Das evangelische Kreiskirchenamt stellte eine große Wohnung zur Verfügung. „Die Miete hätten wir privat nicht stemmen können“, sagt Hoda E. Aber jetzt – es war immerhin schon Herbst geworden – konnte der NesT-Koordinierungsstelle zurückgespielt werden, dass es sogar Platz für eine große Familie gab: eine Altbauwohnung, schön, hell, mit großen Fenstern, direkt gegenüber einer Grundschule.

Die Wohnung wurde gestrichen, eine gebrauchte Küche gekauft, das Geld dafür privat vorgestreckt. Die nötigsten Möbel – Matratzen, Schreibtisch – aus einer Hotelauflösung wurden mit dem Transporter abgeholt. Anfang Dezember 2019 überschlugen sich dann die Ereignisse. Es wurde konkret: Die Ankunft der Schutzbedürftigen wurde für den 16. Dezember terminiert, und es stellte sich heraus, dass die Gruppe Mutter, Vater und vier Kinder im Alter von vier, sechs, zehn und elf Jahren empfangen würde. Familie S. stammte aus Syrien und hatte bereits sechs Jahre in Jordanien ausgeharrt. Zunächst viele Jahre in einem Zeltlager, am Schluss in einer winzigen Wohnung, aus der sie sich nicht hinauswagten. Keine Schule, keine Arbeit – und keine Perspektive.

Eine Frau beim Arzt
© Alexander Glandien

Endlich ein eigenes Zuhause

Aus Friedland wurde die sechsköpfige Familie von zwei Mentor*innen und dem Flüchtlingsbeauftragten des örtlichen Kirchenkreises abgeholt. Dort, in der Massenunterkunft in Niedersachsen, hatten sie ihre ersten zwei Wochen in Deutschland verbracht und offensichtlich nicht gut geschlafen. „Sie waren so erschöpft“, erinnert sich Maryam N. Der Empfang im neuen Zuhause war liebevoll: Familie S. wurde mit einem aufwendigen Buffet mit vielen internationalen Speisen begrüßt. Überfordert von den Eindrücken, überwältigt von der Herzlichkeit und unendlich glücklich über die neu gewonnene Privatsphäre war die Familie. Der Wohnungsschlüssel – wirklich ihr eigener? Tags darauf der erste Spaziergang durch die Stadt, Ziel: Einwohnermeldeamt und Weihnachtsmarkt. Dort gab es Essensstände, auch mit traditionell syrischer Kost. Ein Zufall, den die Familie und ihre Betreuer*innen als gutes Omen für den Neustart verstanden.

Der Kühlschrank war satt gefüllt, doch nun galt es, zügig Anträge auszufüllen, etwa fürs Jobcenter oder ein Bankkonto. Kurzfristig wurde es hektisch, denn die jüngere Tochter zeigte Herzprobleme und musste sofort zum Arzt. Noch fehlte die Versichertenkarte. Die ägyptische Ärztin aus dem Team organisierte einen Besuch beim Kardiologen. Der war beunruhigt: Der Herzmuskel der Zehnjährigen hatte sich zurückentwickelt. Gründe dafür waren die mangelnde Bewegung und die schlechte Ernährung in den Jahren der Stagnation. Viele Tipps für einen gesünderen Lebensstil und regelmäßige Routineuntersuchungen folgten.

Ein Mädchen lernt Fahrrad fahren
© Alexander Glandien

Lebensplanung am Flipchart

Die Gruppe hatte im Vorfeld gut geplant. „Wir haben das richtig professionell betrieben“, erzählt Maryam N. von den ersten Treffen. Mit Flipcharts und Tabellen wurde gebrainstormt: Was könnte auf sie zukommen? Wer kann was leisten? Nicht nur die medizinische Expertise wurde abgeklärt, sondern auch banale Dinge wie Einkaufsdienst und Begleitung im öffentlichen Nahverkehr. Als besonders smart sollte sich im Nachhinein herausstellen, dass das Mentor*innen-Team die Hausordnung ins Arabische übersetzt und die Nachbar*innen im Dreifamilienhaus kontaktiert und eingeweiht hatte. Beim Bekanntmachen im weitläufigen Nachbarschaftskreis stellte sich sogar heraus, dass ein anderes Ehepaar auch aus Syrien stammte. Die beiden nahmen fortan ihre beim Einkaufen noch unerfahrenen Landsleute einmal wöchentlich zum Großeinkauf im Auto mit.

„Clemens und Maryam sind das Herz“, beschreibt Hussien K. die Arbeitsteilung der Gruppe. Clemens N. sei inzwischen „wie der Großvater der Familie“. Im Garten habe man gemeinsam Pfefferminze gepflanzt, außerdem haben die N.s dafür gesorgt, dass der Jüngste in jener Kita einen Platz fand, in der ihre eigenen Kinder seinerzeit herumgetollt waren. Maryam N., die selbst vier Kinder großgezogen hat und mittlerweile schon Oma ist, ist für die betreute Familie „wie eine zusätzliche Mutter“. Hier sei echte Nähe und eine Beziehung entstanden, befindet Hussien K. Er selbst und Hoda E. seien im Team eher für die Bürokratie zuständig. „Wir übernehmen den Innendienst“, bestätigt seine Kollegin, der es wichtig ist, dass der Vater immer selbstständiger wird und inzwischen Briefe im DRK-Büro unter Anleitung alleine adressieren und frankieren lernt.

Neu im Unterricht
© Alexander Glandien

Corona wirft die Integration zurück

Mit dem Deutschlernen lief es etwas schleppend. Aber nun hat der Kinderarzt für das jüngste Familienmitglied eine Frühförderung angeordnet, und für die Mutter wurde eine pensionierte Lehrerin gefunden, die Nachhilfe via Zoom gibt. Clemens N. erteilt dem Vater inzwischen den Sprachunterricht immer noch persönlich, aber mit FFP2-Maske. Die schulpflichtigen Kinder haben mittlerweile alle ein geliehenes iPad von der Schule erhalten. Im Schnelldurchgang haben sie ihren technischen Rückstand aufgeholt. Und dennoch: „Corona lähmt.“

Das Virus hat die Eingewöhnung in der fremden Umgebung massiv ausgebremst. Geplant war ein Schwimmkurs, die Jungs wollten außerdem im Verein kicken, und die Mutter wollte in die Nachbarschaftshilfe eingebunden werden. Immerhin, einen Fahrradkurs habe sie mit den Mädchen auf dem Schulhof gemacht, sagt Maryam N. Besonders hinderlich sind die Pandemie-Restriktionen auch für die berufliche Entwicklung. Der Vater ist Busfahrer. In Deutschland benötigt er dafür einen deutschen Führerschein. Die theoretische Prüfung hat er zwar bestanden, doch die Fahrpraxis scheiterte bisher daran, dass zurzeit kein*e Übersetzer*in mitfahren darf. „Das müssen wir unbedingt noch angehen“, ist sich die Gruppe einig.

Die Verbundenheit bleibt

Die ideelle NesT-Begleitung der Familie ist nach einem Jahr, also bereits an Weihnachten 2020, eigentlich vorbei gewesen. Doch die Mentor*innen sehen sich längst nicht am Ende. Erziehung zum Beispiel verteile sich in arabischen Familien normalerweise auf mehrere Schultern: Großeltern, Tanten und Onkel seien involviert. Kein Wunder also, dass die Mutter noch immer dankbar für pädagogische Gespräche ist: Wann soll ein Kind ein Handy bekommen? Wie gut, dass insbesondere Maryam N. immer mütterlichen Rat weiß. Sie hat auch darauf gedrängt, dass Elternbriefe ernst genommen werden und bei Krankheit der Kinder eine Entschuldigung geschrieben wird. Das Einmaleins der Kommunikation mit den Lehrkräften sei nicht selbstverständlich gewesen. Ein großer Fortschritt: Mittlerweile sind die Eltern S. in die WhatsApp-Gruppen der jeweiligen Klassen ihrer Kinder integriert worden.

Ans Herz gewachsen sei ihr die Familie, betont Maryam N. aufrichtig. Sie ist sich sicher: Dass einer schutzbedürftigen Familie ein langfristiger Aufenthaltstitel ausgestellt werde, „das ist psychologisch so wichtig“. Alles sei nun auf einem guten Weg. Sogar die Wohnung des evangelischen Kirchenkreises könne die Familie wohl auch über 2022 hinaus behalten. Die Miete wird dann im besten Fall der Vater selbst übernehmen können – dank Führerschein.

* Wir nennen in unserem Beitrag die Namen der Beteiligten nicht komplett, um sie vor Anfeindungen zu schützen.

Neustart im Team (NesT)

„Neustart im Team“ (NesT) ist ein Aufnahmeprogramm der Bundesregierung für besonders schutzbedürftige Geflüchtete. Ehrenamtliche Mentor*innen helfen den Geflüchteten bei der Ankunft, Organisationen der Zivilgesellschaft begleiten und unterstützen die Mentor*innen. Die Bertelsmann Stiftung, die Stiftung Mercator und die Evangelische Kirche von Westfalen fördern das Projekt.
https://www.neustartimteam.de