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Übung im Sommer 2019: Das Schiff "Alan Kurdi" der deutschen NGO Sea-Eye.

© Darrin Zammit Lupi/Reuters

Update

„Ein Appell, Menschen ertrinken zu lassen“: Seehofer-Ministerium fordert Stopp der Seenotrettung im Mittelmeer

Das Sea-Eye-Schiff „Alan Kurdi“ darf wegen der Coronakrise weder in Italien noch Malta ausschiffen. Dem beugt sich das Bundesinnenministerium.

Von Matthias Meisner

Das Bundesinnenministerium fordert einen Stopp der Seenotrettungs-Aktivitäten im Mittelmeer - und bringt damit viele Flüchtlingshelfer gegen sich auf. Anfang dieser Woche appellierte der Abteilungsleiter Migration in der vom CSU-Politiker Horst Seehofer geführten Behörde an verschiedene NGOs, „angesichts der aktuellen schwierigen Lage“ derzeit „keine Fahrten aufzunehmen und bereits in See gegangene Schiffe zurückzurufen“.

Zur Begründung heißt es in dem Brief, die italienische Innenministerin Luciana Lamorgese habe sich bereits Ende März an Seehofer mit dem Hinweis gewandt, dass das unter deutscher Flagge fahrende Schiff „Alan Kurdi“ der NGO Sea-Eye seine Rettungsaktivitäten im zentralen Mittelmeer wieder aufnehme. Es hat seit Montag 150 gerettete Migranten an Bord und sucht bereits seit mehreren Tagen auf dem Mittelmeer nach einer sicheren Anlegestelle. Nach Angaben der Besatzung befindet sich eine Schwangere unter den vor der Küste Libyens geretteten Menschen.

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In dem Brief des Seehofer-Ministeriums heißt es, die italienische Regierung habe explizit darauf hingewiesen, „dass Italien wegen Covid-19 vor dem schwierigsten Gesundheitsnotstand der Nachrkiegszeit stehe und es daher unmöglich sei, die Ausschiffung, Aufnahme und Versorgung von aus Seenot geretteten Flüchtlingen und Migranten durch private Schiffe zu bewältigen“. Dies sei „ein eindringlicher Appell“ der Regierung in Rom, kommentierte der zuständige Abteilungsleiter der Behörde.

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Mit einer Verbalnote habe dann am vergangenen Freitag die maltesische Regierung ebenfalls mitgeteilt, dass sie eine Ausschiffung der „Alan Kurdi“ in Malta nicht gestatten könne. Im Brief des Ministeriums an Sea-Eye heißt es weiter: „Sie müssen also davon ausgehen, dass im Mittelmeerraum kein Aufnahmehafen für Sie gefunden wird und Sie Gefahr laufen, auf eine Ausschiffung der aus Seenot Geretteten im Flaggenstaat verwiesen zu werden.“ Im konkreten Fall wäre das Deutschland.

Der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt sagte dem Tagesspiegel: „Das Bundesinnenministerium fordert dazu auf, dass man auf der tödlichsten Fluchtroute der Welt nun die Rettungsschiffe stilllegt, weil man im Hafen logistische Probleme haben könnte. Solche Forderungen können nur von Menschen kommen, die sich das Leid auf der Flucht nicht vorstellen können.“ Marquardt, der sich seit Wochen auch für die Flüchtlinge auf den griechischen Inseln engagiert, sagte weiter: „Man kann doch nicht Menschen ertrinken lassen, damit sie nicht in schwierige Situationen kommen.“

Pro Asyl: Pflicht zur Seenotrettung auch in Zeiten von Pandemien

Die Flüchtlingsorganisation Pro Asyl appellierte unter Hinweis auf die Lage der „Alan Kurdi“: „Die Pflicht zur Seenotrettung gilt auch in Zeiten von Pandemien. Um eine humanitäre Katastrophe abzuwenden, müssen sich das Auswärtige Amt und das Bundesinnenministerium für die schnellstmögliche Ausschiffung der 150 Geretteten in einem sicheren Hafen einsetzen.“

Mehrere Seenotrettungsorganisationen prangerten die Entscheidung Italiens an, wegen der Coronakrise alle Häfen zu schließen. Die wegen der Corona-Krise leidenden Bürger Italiens dürften nicht der Grund dafür sein, „jenen Hilfe zu verwehren, die nicht Gefahr laufen, in einem Intensivbett zu ersticken, sondern zu ertrinken“, heißt es in einer gemeinsamen Erklärung der Organisationen Ärzte ohne Grenzen, Sea Watch, Mediterranea Saving Humans und Open Arms.

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„Alle Leben müssen gerettet werden, alle gefährdeten Menschen geschützt, an Land wie auf See“, betonten die Organisationen. Es sei „möglich und notwendig“, dies zu tun. Den Brief aus dem Bundesinnenministerium nannte Sea Watch auf Twitter einen „Appell, Menschen ertrinken zu lassen“.

Ein Sprecher von Sea Watch sagte dem Tagesspiegel, mit dem Brief überschreite das Bundesinnenministerium seine Kompetenzen - und eröffne keine Alternativen: „Auch in Zeiten von Corona lässt die EU Menschen keine andere Option, als in der Suche nach Sicherheit es über die oft tödliche Route Mittelmeer zu versuchen. Auch in Zeiten von Corona sind Menschenrechte nicht verhandelbar, darf internationales Recht nicht untergraben werden, und das Ertrinken lassen von Menschen im Mittelmeer darf keine Option sein.“

„Eine lange Zeit auf offener See ist hoch gefährlich“

Auch ein Sprecher des Bündnisses Seebrücke betonte, die Initiativen von Seenotrettern wie Sea-Eye sei gar nicht hoch genug zu schätzen. Der Sprecher sagte dem Tagesspiegel: „In Libyen wird weiter gekämpft, geflüchtete Menschen sind weiter Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt und sind weiter zur Flucht gezwungen. Zivile Seenotrettungsorganisationen sind seit Jahren die einzigen Kräfte, die systematische Seenotrettung im zentralen Mittelmeer betreiben. Ohne sie werden noch mehr Menschen ohne Spur in der Dunkelziffer verschwinden.“

Die Lage der „Alan Kurdi“ sei „besonders dramatisch“. Das Schiff habe nur wenige Optionen - „entweder nach Norden fahren oder in einen ungewissen Stand-off vor Italien gehen. „Das Schiff ist nicht sonderlich groß und mit 150 Personen an Bord schon gut ausgelastet“, sagte der Sprecher. „Eine lange Zeit auf offener See mit so vielen Menschen an Bord, die alle aus libyschen Lagern kommen, ist hoch gefährlich.“

Sea-Eye-Sprecher Gorden Isler berichtete am Donnerstag, noch nie seien so viele Gerettete an Bord des Schiffes gewesen. Dieser Zustand sei untragbar. Die beengten Verhältnisse auf dem Schiff könnten schnell zu kleineren Konflikten führen. Die Kapitänin Bärbel Beuse habe die italienische Rettungsleitstelle um Nahrungsmittel, Medikamente und Treibstoff für das Schiff gebeten. Nach Islers Angaben befindet sich die „Alan Kurdi“ in der Nähe der Insel Lampedusa.

Mission Lifeline: Innenministerium pfeift auf Humanität

Die in Dresden gegründete Hilfsorganisation Mission Lifeline griff das Bundesinnenministerium scharf an. Letztlich habe die Bundesregierung selbst dafür gesorgt hat, dass Italien und Malta jetzt dicht machten, sagte der Sprecher von Mission Lifeline, Axel Steier, dem Tagesspiegel. Italien und Malta würden „wieder im Stich gelassen“. Steier sagte weiter: „Gerade im Lichte von Covid-19 sollte eigentlich die Rettung von Leben obenan stehen. Das Bundesinnenministerium aber pfeift auf Humanität.“

Laut dem italienischen Innenministerium wurden in diesem Jahr bislang knapp 3000 Migranten an italienische Häfen gebracht. Hilfsorganisationen gehen davon aus, dass die Zahl der Mittelmeer-Flüchtlinge steigen wird, wenn sich das Coronavirus in Libyen weiter ausbreitet.

Die humanitäre Situation in dem Bürgerkriegsland sei zu keinem Zeitpunkt schlechter gewesen als derzeit, erklärte der für Libyen zuständige Einsatzleiter der Internationalen Organisation für Migration (IOM), Federico Soda, am Mittwoch. Für humanitäre Helfer werde es wegen der prekären Sicherheitslage und nun auch der Ausbreitung des Coronavirus immer schwieriger, besonders gefährdete Menschen in Libyen zu erreichen. (mit AFP)

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