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Die etwas andere Rendite
Christian Hiß Foto

Bürger*innen, die in ihre eigene Ernährungsversorgung investieren – das ist die Idee einer Regionalwert AG. Christian Hiß gründete 2006 die erste in Freiburg. Sein Anliegen: richtig rechnen. Die soziale und ökologische Rendite eines Betriebs sollen genauso wichtig wie die finanzielle sein. Damit ist er schon ein gutes Stück vorangekommen.

Ende der 90er Jahre benötigte der ökologische Landwirt und Gärtner Christian Hiß Kapital, weil er seinen Gemüsebaubetrieb um einen Milchbetrieb erweitern wollte. Das Milchvieh sollte ihn unter anderem mit Dünger versorgen. So wollte er einen Ressourcenkreislauf im eigenen Betrieb in Gang setzen, um nicht auf Dünger aus fossilen Quellen angewiesen zu sein und trotzdem die Bodenfruchtbarkeit zu erhalten. Der Banksachbearbeiter lehnte den Antrag ab. Seine Worte „Ich verstehe Sie ja, aber ich arbeite in einer Bank“ blieben hängen. Sie waren für Christian Hiß symptomatisch dafür, dass die Kapitalwirtschaft anderen Regeln gehorchte als der gesunde Menschenverstand. Er wollte beides wieder zusammenbringen.

Im Jahr 2006 gründete Christian Hiß deshalb die Freiburger Regionalwert AG. Sie erhält Finanzkapital, indem sie Aktien an Bürger*innen der Region ausgibt. Dieses investiert die AG in kleine und mittlere Betriebe der ökologischen Ernährungswirtschaft in der Region, die die gesamte Wertschöpfungskette abbilden. Die Aktionär*innen können so ihre eigene Ernährungsversorgung mitgestalten. Gleichzeitig wird sozial und ökologisch wirtschaftenden Betrieben der Zugang zu Kapital erleichtert.

Daneben hatte Christian Hiß einen ganz praktischen Beweggrund für die Gründung der AG: Seine Söhne sollten in ihrer Berufswahl frei bleiben. Landwirtschaftliche Betriebe sind oft Familienbetriebe; werden sie nicht von den Kindern übernommen, schließen sie meist. Auch das ist ein Anliegen der AG: Existenzgründer*innen ohne Betrieb und Betriebe ohne Nachfolger*innen zusammenzubringen.

„Man tut“ statt „man müsste“

Die Veränderung, die man sich wünscht, einfach umsetzen: Für Christian Hiß war das naheliegender als auf die Politik oder die nächste Generation zu warten. In der Ökonomie der landwirtschaftlichen Praxis wollte er die Veränderungen, die er für nötig hielt, selbst angehen – auch auf die Gefahr hin, zu scheitern. 

Natürlich gab es Hindernisse. Eine der größten Herausforderungen für die AG waren die Anforderungen der Finanzdienstleistungsaufsicht: Wer Aktien ausgibt, muss in einem Prospekt über Gegenstand und Risiken des Wertpapiers informieren. Keine leichte Aufgabe für eine kleine Initiative ohne Finanzexperten. Die AG nahm die Herausforderung jedoch an und hat mittlerweile sechs gebilligte Wertpapierprospekte veröffentlicht. So wurde das ursprüngliche Hindernis zum Multiplikator: „Wir konnten unsere Überzeugungen von ‚gutem‘ Wirtschaften im Inneren der Finanzkapitalwirtschaft platzieren“, sagt Christian Hiß. Diese Überzeugungen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen, ist entscheidend, denn: „Das größte Hindernis sind tatsächlich die Denkgewohnheiten in der Gesellschaft und beim einzelnen Menschen. Genau das haben wir uns zur Aufgabe gestellt – durch Aufklärung über nachhaltiges Wirtschaften in der Landwirtschaft ein Stück weiter zu kommen. Denn das Konzept der Regionalwert-Ökonomie muss begriffen werden.“

Die Erfahrungen, die die AG gemacht hat, gibt sie an die anderen Regionalwert AGs weiter, damit diese darauf aufbauen können. Mittlerweile existieren in Deutschland fünf Regionalwert AGs; weitere befinden sich in Gründung. Im Großen und Ganzen ist Christian Hiß davon überzeugt, dass das Konzept stimmt.

Das Beschreiten unüblicher Wege braucht frühe Unterstützung

Damit war er nicht alleine: Die AG konnte nur so weit kommen, weil es von Anfang an Menschen gab, die an das Konzept glaubten und die AG deshalb unterstützten. Beispielsweise durch frühe Aktienkäufe: Bei der ersten Aktienausgabe im Jahre 2008 kam innerhalb von drei Monaten ein Kapital von einer Million Euro zusammen.

Entscheidend war es, Unterstützung an der Basis zu haben. Beispielsweise durch den Bürgermeister von Eichstetten, dem Ort, in dem Hiß aufwuchs und in dem er die AG gründete. Der Kommunalpolitiker verstand, welche Veränderungen die AG anstieß, und wollte dafür Verantwortung übernehmen. Deshalb stellte er sich für den Aufsichtsrat zur Verfügung – was für die Anerkennung der AG laut Christian Hiß von „unschätzbarem Wert“ war.

Insgesamt ist der AG-Gründer begeistert, mit welcher Motivation die Menschen dabei sind. Die Mitarbeiter*innen seiner Geschäftsstelle, Aktionär*innen, Aufsichtsrät*innen, Bioladenbetreiber*innen – alle, die mit dem Geld der Regionalwert AG wirtschaften.

Was hängen bleibt: Rendite ist mehr als Geld

Die Regionalwert AG Freiburg hat 750 Aktionär*innen. Verglichen mit börsennotierten Unternehmen ist das eine geringe Zahl. Nichtsdestotrotz ist Christian Hiß überzeugt, eine gesamtgesellschaftliche Veränderung angestoßen zu haben. „Auch bei Personen, die sich mit dem Konzept beschäftigt und gegen den Kauf einer Regionalwert-Aktie entschieden haben, ist ein Bewusstseinswandel geschehen. Allein durch die Auseinandersetzung mit der Sache. Sie sind mit Renditearten konfrontiert worden, die sie vorher nicht in Betracht gezogen haben.“ Dies ist umso bedeutender, als die AG seit ihrer Gründung noch keine finanzielle Dividende an die Aktionär*innen ausschütten konnte.

Früher gab es als Dividende Geld, alles andere spielte keine Rolle. Diese Art der Bilanzierung von Unternehmenserfolg war aus Christian Hiß‘ Sicht unhaltbar. Er schrieb 2015 das Buch „Richtig Rechnen! Durch die Reform der Finanzbuchhaltung zur ökologisch-ökonomischen Wende“. Das ist für ihn keine Frage der Ideologie, sondern praktischer Alltag: „Ich glaube, durch meine praktische und theoretische Arbeit dazu beigetragen zu haben, dass soziale, ökologische und regionalwirtschaftliche Kriterien des Wirtschaftens nichts mehr mit Ideologie zu tun haben, sondern harte wirtschaftliche Faktoren geworden sind, die in die Bilanzen von Betrieben eingerechnet werden.“

Den Blick darauf, was als Rendite gilt, nachhaltig zu verändern – das ist das Wichtigste, was die Regionalwert AG in den zwölf Jahren seit ihrer Gründung angestoßen hat. Christian Hiß ist begeistert, was in Bewegung gekommen ist. Denn er wuchs noch in anderen Zeiten auf: Als seine Eltern den Hof in den 1950ern auf ökologische Erzeugung umstellten, gab es etwa 50 biologische Betriebe in Deutschland. Heute sind es an die 30.000. Die Nachhaltigkeitsbewegung war bis in die 1990er Jahre kaum erkennbar, hat sich in den letzten Jahren aber rasant entwickelt. Das gibt Zuversicht.

Das Denken in ganzen Wertschöpfungsketten

Christian Hiß wird oft mit der Frage konfrontiert, ob das Modell auf andere Wirtschaftszweige übertragbar ist. Beantworten kann er sie nicht, weil ihm kein Beispiel bekannt ist. „Aber was Akteure aus anderen Wirtschaftsbereichen von uns lernen können, ist das Denken in ganzen Wertschöpfungsketten und in Wertschöpfungsräumen“, sagt er. Denkbar wäre das seiner Einschätzung nach in Bereichen wie der medizinischen Versorgung, der Sozialpädagogik oder dem sozialen Wohnungsbau. Den Blick nicht auf den Einzelbetrieb, sondern auf das ganze Netzwerk entlang der Wertschöpfungskette zu richten, sei entscheidend.

Die Freiheit, anders zu entscheiden

Gerade in der Landwirtschaft ist viel durch den Jahreslauf vorgegeben; oftmals kommt man aus der Tradition und hat einen Betrieb übernommen, der schon seit vielen Generationen der Familie gehört. Das sind auf den ersten Blick keine Bedingungen, die großen kreativen Spielraum lassen.

Doch Christian Hiß fühlt sich frei, Entscheidungen zu treffen. Besonders inspiriert hat ihn das berühmte Zitat von Joseph Beuys: Jeder Mensch ist ein Künstler. „Ich muss natürlich die Konsequenzen einer Entscheidung tragen. Aber selbst als Landwirt bin ich Künstler, der den Freiraum hat, eine Entscheidung anders zu treffen als ein System oder eine Konvention es vorgibt“, erklärt er. Entscheiden aus einer ästhetischen Betrachtung heraus, und nicht aus der kalten Logik von Wissenschaft oder Wirtschaft, das ist für ihn Kunst.

Die Regionalwert AG Freiburg war Praxispartner im Projekt „Neue Chancen für eine nachhaltige Ernährungswirtschaft durch transformative Wirtschaftsformen“ (kurz nascent), das sich mit der Frage beschäftigte, ob die Ernährungswirtschaft umfassend nachhaltig transformiert werden kann. „Die Regionalwert AG in Freiburg und der Name Christian Hiß sind untrennbar miteinander verbunden. Er ist die Persönlichkeit, die landwirtschaftliches Know-how mit der Vision eines regionalen Wertschöpfungsraums verbindet und diese Vision in ein erfolgreiches Finanzierungsmodell übersetzt hat“, sagt Dr. Irene Antoni-Komar, Wissenschaftlerin im nascent-Projekt. Die Wissenschaft gehört für Christian Hiß dazu, um Bestehendes wie Neues besser reflektieren zu können. Bedarf gebe es immer: „Wir haben eine Fülle an offenen Fragen.“ Er bemüht sich, die Fragen, die sich aus seiner Praxis ergeben, in die Forschung einzubinden. Die meisten der Mitarbeiter*innen der Geschäftsstelle sind in der Wissenschaft tätig. Aktuelle Projekte widmen sich der Finanzbuchhaltung in der Landwirtschaft und dem unternehmerischen Umgang mit Gesellschaft, Natur und Wissen.
Jahr: 
2019