BDI-Präsident Siegfried Russwurm beim Tag der Industrie (TDI) © Christian Kruppa

TDI22: Industrie stellt sich mit klarer Haltung der geopolitischen Zeitenwende

Anlässlich des Tages der Industrie (TDI) betont BDI-Präsident Russwurm in seiner Rede, dass es falsch war, Abhängigkeiten als Preis für Kostenvorteile und Skaleneffekte zu akzeptieren – genauso falsch wie der Verzicht auf eigene Investitionen in die deutsche Verteidigungsfähigkeit: "Wir haben uns die Feuerwehr gespart, weil wir das Brandrisiko für vernachlässigbar gehalten haben. Jetzt brennt es lichterloh."

Zuversicht, durchzustarten – das war die Stimmungslage Anfang des Jahres:

  • Die Pandemie schien im Griff,
  • der Suezkanal war wieder befahrbar,
  • die neue Regierung in Aufbruchsstimmung – motiviert, unser Land erfolgreich in eine klimaneutrale Zukunft zu führen.

Dieses Ziel bleibt. Aber die Prioritäten haben sich geändert. Am 24. Februar hat uns eine neue, bis dahin fast undenkbare Krise getroffen – und erneut wissen wir nicht, wie lange diese Krise uns bedrohen wird. Der Bundeskanzler hat von einer Zeitenwende gesprochen. Das gilt auch für die Unternehmen.

Umso wichtiger ist es, dass wir über die Perspektiven des Industriestandorts diskutieren:

  • mit dem Bundeskanzler,
  • mit Ministerinnen und Ministern der Bundesregierung,
  • mit der litauischen Premierministerin Ingrida Šimonytė und weiteren internationalen Gästen,
  • mit Vertreterinnen und Vertretern der Parteien
  • und mit Ihnen allen, meine Damen und Herren.

Danken möchte ich schon zu Beginn Deloitte und Herrn Krug für die erneute großzügige Unterstützung unseres Tages der Industrie.

Industrie stellt sich mit klarer Haltung der geopolitischen Zeitenwende

Mit seinem brutalen Angriffskrieg gegen die Ukraine hat Präsident Putin den Minimalkonsens der zivilisierten Welt verlassen. Nicht nur wegen des Primats der Politik, sondern aus großer eigener Überzeugung unterstützt die deutsche Industrie den Russland-Kurs der Bundesregierung und die internationale Sanktionspolitik. Das Völkerrecht und die territoriale Unversehrtheit sind für uns nicht verhandelbar – deshalb gilt der Ukraine unsere Solidarität.

Der BDI und etliche Tausend Unternehmen sind Teil der Initiative „Wirtschaft hilft“. Viele von Ihnen, meine Damen und Herren, engagieren sich in Ihrem Betrieb für „Wirtschaft hilft“.

  • Sie bieten Arbeits- und Ausbildungsplätze für Geflüchtete.
  • Sie helfen mit Geld, Sachspenden, Rat und Tat.
  • Sie bieten Sprachkurse an und fördern die Integration.

Das ist gelebte Solidarität, die Sie persönlich und Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter leisten. Herzlichen Dank hierfür.

Wir alle müssen unser Weltbild korrigieren. Wir dachten, Grenzen gewaltsam verschieben zu wollen, das sei in Europa ein für alle Mal vorbei. Heute wissen wir: Dieses Vertrauen in Vernunft und zivilisatorischen Fortschritt war eine Illusion. Die vielzitierte Friedensdividende war Wunschdenken.

Abhängigkeiten als Preis für Kostenvorteile und Skaleneffekte zu akzeptieren – das war genauso falsch wie der Verzicht unseres Landes auf eigene hinreichende Investitionen in seine Verteidigungsfähigkeit. Wir haben uns die Feuerwehr gespart, weil wir das Brandrisiko für vernachlässigbar gehalten haben. Jetzt brennt es lichterloh.

Die Situation lenkt unseren Blick auch auf die geopolitische Ordnung insgesamt. Auf das Machtverhältnis von Autokratien und liberalen Demokratien – und auf die Brüchigkeit des zivilisatorischen Miteinanders in der Staatengemeinschaft. Selbstverständlich können fairer Handel und Investitionen Positives in anderen Ländern und Gesellschaften bewirken – dafür haben wir gute Beispiele. Aber dass sich dadurch politische und gesellschaftliche Ordnungen ändern, ist kein Automatismus. In autokratischen Regimen geschieht genau so viel Wandel, wie die Autokraten zulassen – und die lassen sich oft nicht von Handel beeinflussen.

Zuvorderst ist es Aufgabe der Politik, mit außenpolitischen Instrumenten auf autokratische Systeme einzuwirken. Aber auch Unternehmen haben die Pflicht, in ihrem eigenen Verantwortungsbereich rote Linien zu definieren. Dass das stets eine Gratwanderung ist, war uns vermutlich nie so bewusst wie heute.

Der Krieg ist für die Weltwirtschaft ein Schock – nach der Pandemie der zweite in unmittelbarer Abfolge. Hohe Rohstoffpreise heizen die Inflation an – das spüren die Bürgerinnen und Bürger. Vor allem leiden darunter diejenigen, die sich wenig leisten können. Es spüren aber auch viele Unternehmen. Deshalb waren die Entlastungspakete im Großen und Ganzen richtig – aber sie sind keine dauerhafte Lösung.

Corona, Krieg, Inflation, trübe Konjunkturaussichten: All das ist Gift für Investitionsentscheidungen. Noch sind die Auftragsbücher der Investitionsgüterindustrie gut gefüllt, auch weil sich Produktionstaus aus gestörten Lieferketten nur langsamen auflösen. Aber wenn das Vertrauen in weiteres Wachstum kippt, egal ob wegen einer Hard Landing der US-Konjunktur oder wegen steigender Zinsen und Kapitalkosten in Europa, kann sich das Bild schnell ändern.

Das alles macht die Zeiten schwierig. Aber Unternehmerinnen und Unternehmer schauen nach vorne: Wer nicht Optimist ist, ist in der Leitung eines Unternehmens fehl am Platz. Wir trauen uns zu, die Veränderung zu gestalten. Gestalten, das ist der Auftrag der Wählerinnen und Wähler an Sie, sehr geehrter Herr Bundeskanzler, und Ihre Regierung – genauso wie der Auftrag der Kundinnen und Kunden, der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, der Investorinnen und Investoren an uns in den Unternehmen.

Industrieland, Exportland, Innovationsland: So beschreiben wir die essenzielle Basis unseres Wohlstands. Alle drei Elemente müssen wir ausbauen und schützen. Resilienz hat gute Chancen, das Wort des Jahres 2022 zu werden – nicht als Modewort, sondern als neu verstandener Imperativ. Resilienz gegenüber unberechenbaren Systemwettbewerbern stärken heißt, uns gegen machtpolitische Erpressung und Einschüchterung zu rüsten. Im Umgang mit anderen Ländern müssen wir drei Ebenen unterscheiden:

1. gibt es existenzielle Themen für die gesamte Menschheit – allen voran den Klimawandel, dazu den Kampf gegen Hunger und Pandemien – bei denen die Weltgemeinschaft über alle Systemgrenzen zur Zusammenarbeit gezwungen ist – alle Länder ohne Ausnahme.

2. gibt es Rivalität der Systeme – Autokratie gegen Demokratie. Das zeigt sich an Checks and Balances versus absolutistischer Herrschaft genauso wie an anderen fundamentalen Systemunterschieden – auch und gerade an dem Umgang mit Freiheit, Selbstbestimmung und Menschenrechten.

Wir reden einer Blockbildung in der Welt nicht das Wort. Aber wir müssen mit Realitäten umgehen. Und weil wir aus der jüngsten Vergangenheit gelernt haben, gilt es, einseitige Abhängigkeiten zu vermeiden:

  • Bei Rohstoffen durch eine viel breitere Diversifikation unserer Bezugsquellen, durch Substitution und das Ausschöpfen der Potenziale von Recycling und Kreislaufwirtschaft.
  • Durch den Ausbau essenzieller Entwicklungs- und Produktionskompetenzen wie der Halbleitertechnologie auf unserem Kontinent.
  • Durch die Diversifizierung unserer Absatzmärkte.

3. ist klassischer Wettbewerb unsere Formel für den Erfolg in der Welt: Innovationsvorsprung, Technologieführerschaft und Wettbewerbsstärke – damit müssen die demokratisch verfassten Industrieländer rund um den Globus den Systemwettbewerbern ein attraktiveres Angebot entgegenstellen.

Aber Achtung: Der Schiedsrichter ist immer der Kunde. Der entscheidet, welches Angebot attraktiv und wettbewerbsfähig ist – egal ob Konsument, ob Abnehmer von Investitionsgütern oder die Regierung eines Landes, wenn es um Infrastrukturleistungen geht.

Auch deshalb muss Deutschland „mehr Fortschritt wagen“, wie es über dem Koalitionsvertrag der Ampelkoalition steht. Industriepolitik gehört in den Mittelpunkt, um durch überzeugende Innovationen im globalen Wettbewerb zu bestehen. Daraus resultiert wirtschaftliche Stärke. Und die ist Voraussetzung auch für Sicherheit, gesellschaftliche Stabilität und Teilhabe aller. Deshalb brauchen wir in der Standort-, Energie- und Klimapolitik ebenso wie in der gesamten digitalen Transformation rasche, entschlossene Entscheidungen – nicht, obwohl wir schon wieder eine akute Krise bewältigen müssen, sondern gerade weil unsere Wirtschaft in der neuen Geoökonomie widerstandsfähiger und wettbewerbsfähiger werden muss.

Ja, es braucht den Staat als Enabler – aber nicht in den Leitständen marktwirtschaftlicher Prozesse. Und ja, es gibt in der akuten Krisensituation Aufgaben, die aktivere staatliche Steuerung verlangen – aber das darf nicht allgemeiner Kurs der Wirtschaftspolitik werden. Wir müssen nicht noch einmal beweisen, dass Planwirtschaft nicht erfolgreich ist. Deshalb brauchen wir den ordnungspolitischen Konsens, dass Eigentum, Eigenverantwortung und unternehmerische Freiheit zentrale Elemente der sozialen Marktwirtschaft sind und bleiben müssen.

Globale Wettbewerbsfähigkeit ins Zentrum rücken

Hohe Energiepreise, hohe Steuern und eine analoge, oft umständliche und langsame Verwaltung in Deutschland schrecken Investoren ab und verspielen Wachstumschancen. Dabei muss gerade jetzt ein Investitionsturbo einsetzen: dauerhafte Unterstützung für Innovation – inhaltlich genauso wie regulatorisch und finanziell. Aber auch einfache Dinge wie verbesserte Abschreibungsbedingungen sind Bausteine für dringende Investitionen in Klimaschutz, Gesundheitstechnologie und Digitalisierung. 

Einen Zukunftsaspekt will ich besonders betonen: Versorgungssicherheit für Energie, Rohstoffe und Basistechnologien. Das ist unsere Achillesferse. Die Langsamkeit der Vergangenheit trifft uns jetzt doppelt: beim Klimaschutz und bei der Entkopplung von Energieträgern aus Russland. Die Energiewende muss deshalb beschleunigt und neu justiert werden – manche Brücken werden deutlich teurer und sollten deshalb kürzer werden.

Kurzfristig müssen wir die Prioritäten neu ordnen:

  • jetzt Vorrang für das Füllen der Gasspeicher, statt Gas zu verstromen. Also jetzt mehr Strom aus Kohle, damit wir zum Winter volle Gasspeicher haben.
  • Viel schneller als bisher den Ausbau von Wind- und Solaranlagen und den Bau der sie mit den Verbrauchern verbindenden Stromtrassen umsetzen.
  • Jetzt neue Bezugsquellen sichern, wie es die Bundesregierung im Verbund mit den Energieversorgern energisch tut.
  • Jetzt die Infrastruktur für Flüssiggas ausbauen, schnell und gleichzeitig zukunftssicher, weil vorbereitet für die Wasserstoffwirtschaft, um akute Versorgungsnot abzuwenden und langfristig sowieso erforderliche Investitionen anzugehen.

Es hilft nicht, Klimaschutz durch immer weiter verschärfte Zielvorgaben beschleunigen zu wollen. Es ist falsch, die Transformation durch verordnete Innovationen gestalten zu wollen. Und es ist anmaßend zu glauben, man wüsste heute, welche Technologien in 13 Jahren angemessen sind. Wirkungsvoller Klimaschutz basiert auf einem technologieoffenen Innovationsumfeld. Die jüngsten Positionierungen des Europäischen Parlaments halten wir für falsch und kontraproduktiv. Entsprechend groß sind unsere Erwartungen an die Bundesregierung und das Treffen des Europäischen Rates diese Woche.

Als Innovationsland brauchen wir nicht mehr Staat, sondern einen modernen, digitalen und effizienten Staat – und ein produktives Zusammenspiel von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik von der Grundlagenforschung bis zu wettbewerbsfähigen Lösungen. Was es nicht braucht, ist immer mehr Bürokratie. Deshalb ist die Regel „one in, two out“ richtig und wichtig. Aber in der Praxis sehen wir davon nichts.

Innovationsstärke, Technologieführerschaft und Geschwindigkeit sind nicht nur Voraussetzung dafür, Innovationen erfolgreich zu skalieren und das Motto „Scaling the New“ des heutigen TDI wahr werden zu lassen. Sie sind auch die Voraussetzung für strategische Souveränität und eine starke Rolle Deutschlands und Europas in einer multipolaren und multilateralen Welt. Wir wissen: Mit China bewegen wir uns zwischen Partnerschaft, Wettbewerb und Rivalität. Aktuell hat die Rivalität deutlich zugenommen. Partnerschaftliche Kooperation wird derzeit in kaum einen Bereich praktiziert. Gegeneinanderstehende Blöcke widersprechen unserer Vorstellung von der Welt. Wenn wir aber in eine Blockbildung gezwungen werden, dann ist die Haltung der deutschen Industrie klar: Wir sind fest im transatlantischen Bündnis verortet. Es gibt für uns keine Äquidistanz im Verhältnis der EU zu den USA und zu China.

Als demokratische Marktwirtschaften haben wir die Chance zum Schulterschluss: zum Beispiel zum Setzen von Standards in strategischen Technologiefeldern. Darin waren sich gestern auf dem Business7-Treffen der großen Industrieländer alle Wirtschaftsvertreter einig – und wir hoffen auf entsprechende Signale des G-7 Gipfels in Elmau Ende dieser Woche. Unser Schulterschluss grenzt nicht aus, sondern lädt andere zum Mitmachen ein: Kein Wirtschaftsstandort, kein Unternehmen kann sich moralischen Rigorismus und den Luxus leisten, sich nur Partner auszusuchen, die dasselbe Wertefundament punktgenau teilen und dieses auch noch vorbildlich implementiert haben. Wir wünschen uns, dass die Europäische Union offen für Kooperationen und den Ausbau der Handelsbeziehungen bleibt – werteorientiert, aber pragmatisch.

Industrie ist Teil ganzheitlicher Sicherheit

„Scaling the new“ ist die Erfolgsbasis der deutschen Industrie in der Welt und damit auch die Basis dafür, wie wir in unserem Land leben können. Unser heutiger Erfolg basiert auf Innovationen von gestern. Die Innovationen von morgen hängen von den Weichenstellungen heute ab. Zugleich entscheidet ökologisch, ökonomisch und sozial nachhaltige Industriepolitik über unsere Erfolgsperspektive im Systemwettbewerb. Sie ist Teil ganzheitlicher Sicherheit und Voraussetzung für die Überwindung der Krisen unserer Zeit.

Aktuell sind wir im Krisenmodus – im ganzen Land und auch in den Unternehmen. Das erfordert von Politik und Wirtschaft – mehr als in normalen Zeiten – wechselseitiges Zuhören, intensives Beraten und entschlossenes Handeln. So bedrückend die Umstände sind: dass dies derzeit gelingt, verdient Dank und Respekt an die Adresse der Bundesregierung – und ist ermutigend.

Ja, wir sind ernüchtert, welche zerstörerische Kraft ein Machthaber entfalten kann, der das Recht des Stärkeren für sich beansprucht. Aber nein – unterkriegen lassen wir uns davon nicht. Wir halten dagegen: mit

  • der Herrschaft des Rechts,
  • der Effizienz des Markts,
  • der Leistungsstärke und Innovationsdynamik unserer Unternehmen,
  • der Kreativität und Kraft unserer freiheitlichen Gesellschaft
  • und der Einigkeit der freien Welt.

Und deshalb endet meine Rede auch nicht mit Ernüchterung, sondern genauso wie es am Anfang stand: mit unternehmerischer Zuversicht. Herzlichen Dank!

 

Es gilt das gesprochene Wort.